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Studie der ETH LausanneEnergiewende wird massiv unterschätzt

AKW Gösgen: Die Schweiz werde bis 2050 insgesamt acht Kraftwerke in dieser Grössenordnung brauchen, sagen Forschende der ETH Lausanne.

Andreas Züttel warnt: «Wenn wir 2050 in der Schweiz eine sichere Energieversorgung haben wollen, braucht es viel mehr, als die meisten Politiker und Behörden heute annehmen.» In einer neuen Studie zeigt der Professor für Chemische Physik der ETH Lausanne (EPFL) zusammen mit drei weiteren Forschern, was das heisst.

Ihr Fazit: Obwohl Solaranlagen und Windräder wichtige Elemente für die Energiewende sind, reichen sie bei weitem nicht für die Elektrifizierung des Strassenverkehrs und den Ersatz der Ölheizungen durch Wärmepumpen. Gemäss der Studie braucht es nach dem Wegfall der alten AKW zusätzlich zu der bestehenden Wasserkraft sechs grosse Kraftwerke, die sogenannte Bandenergie liefern. Das ist Strom, der kontinuierlich fliesst und nicht nur dann, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht.

In Züttels Modell sind diese sechs Kraftwerke der Einfachheit halber alle gleich gross. Jedes müsste über das Jahr hinweg etwa so viel Strom produzieren wie das AKW Gösgen heute. Insgesamt müssten allein sie fast so viel Strom erzeugen, wie die Schweiz derzeit pro Jahr braucht, damit alle Autos und Hunderttausende Wärmepumpen künftig elektrisch betrieben werden können. Tatsächlich würden sogar acht solcher Kraftwerke benötigt, wobei zwei davon als Reserve dienten.

Energie liefern, wenn sie benötigt wird

Zu diesem Ergebnis kommen die Studienautoren aus zwei Gründen: Erstens schätzen sie den künftigen Strombedarf höher ein als etwa die vom Bund engagierten Forscher.

Zweitens sind Züttel und seine Mitautoren überzeugt, dass der künftige Stromspeicherbedarf von Behörden und insbesondere der Solarlobby unterschätzt wird. «Heizöl und Benzin kann man fast beliebig speichern», sagt Züttel. «Fossile Energien sind deshalb immer genau dann verfügbar, wenn wir sie brauchen.»

Andreas Züttel glaubt, dass viele die Energiewende unterschätzen. Der Physikprofessor leitet auch das gemeinsame Labor für erneuerbare Energien der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt und der ETH Lausanne.

Die grosse Herausforderung für die Schweiz bestehe nun aber darin, nach dem Wegfall des Erdöls erneut ein System zu etablieren, das wie heute genau dann Energie liefert, wenn die Bevölkerung sie benötigt. Dazu braucht es laut den Forschern die kontinuierliche Energie der acht Kraftwerke und Wasserkraftwerke, mit welchen Schwankungen ausgeglichen werden können.

Gas, AKW oder Ökobenzin?

Die Studie nennt sieben verschiedene Technologien, die für diese Kraftwerke infrage kommen: etwa mit Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke, neue AKW und neue Wasserkraftwerke. Möglich sei auch die Kombination mehrerer Technologien zu einer Kraftwerkseinheit. So könnten mehrere Solaranlagen mit einem neuen Stausee zu einer Kraftwerkseinheit kombiniert werden, sodass die Turbinen Strom lieferten, wenn Wolken die Sonne verdeckten.

Als mögliche Alternative für eines dieser Kraftwerke schlägt die Studie den Import von aus Strom gewonnenem Flüssigtreibstoff vor, welcher etwa als Kerosinersatz dient. Der Begriff «Kraftwerk» wird damit zwar reichlich strapaziert. Würde die Schweiz aber jährlich eine bestimmte Menge dieses Stoffes einführen und speichern, hätte das den gleichen Effekt wie bei einem Kraftwerk: Energie, die sicher da ist, wenn man sie braucht.

Studie: Neue AKW mit Abstand am günstigsten

Die Autoren vergleichen die Energiekosten der verschiedenen Kraftwerke und kommen zu einem überraschenden Schluss: Ein neues AKW würde mit 8 Rappen pro Kilowattstunde die mit Abstand günstigste Bandenergie liefern. Die Forscher haben in ihre Kalkulationen sowohl die Investitionskosten zum Bau als auch die Betriebs- und die Stilllegungskosten eingerechnet.

Züttel sagt: «Um die Vergleichbarkeit sicherzustellen, haben wir die Investitionskosten in den Berechnungen dreimal so hoch angesetzt, wie die aktuellen Baukosten eines AKW sind.» Er betont, er wolle keine Werbung für neue AKW machen. Herkömmliche Atommeiler seien wohl nicht mehr opportun.

Er glaube aber, dass bis 2050 der Bau eines Thoriumreaktors möglich sei. In China sei ein kleiner Prototyp bereits in Betrieb, zudem sei diese Technologie schon in den 70er-Jahren erforscht worden, sagt Züttel, der seine Diplomarbeit in Kernphysik geschrieben hatte. Thoriumreaktoren kommen ohne Uran aus und haben viele Probleme konventioneller AKW nicht, insbesondere hinterlassen sie kaum lange strahlenden Abfall.

An zweiter Stelle in der Preisrangliste der Forscher kommt mit 24 Rappen pro Kilowattstunde das Kraftwerk, das Fotovoltaikanlagen mit Wasserkraft zu Bandenergie vereinigt.

Die Forscher betonen die Wichtigkeit von Solaranlagen und Windkraft. Doch ebenso wichtig seien Produktionsanlagen, die unabhängig vom Wetter Bandenergie lieferten.

Theoretisch wäre es möglich, alle acht Kraftwerke als Kombination von Fotovoltaikanlagen und Wasserkraft zu konzipieren. Doch Züttel sagt: «Dafür bräuchte es viermal so viel Stauseekapazität, wie wir heute haben. Das ist schlicht nicht realistisch.»

Forscher streiten ums Stromsparen

Züttel und seine Forscherkollegen gehen davon aus, dass der jährliche Strombedarf der Schweiz bis ins Jahr 2050 um rund 80 Prozent steigen wird – von heute 60 auf 110 Terawattstunden. Diese Prognosen liegen deutlich über jenen des Verbandes der Elektrizitätsunternehmen. Dieser schätzt den Stromverbrauch für das Jahr 2050 auf «nur» 80 bis 90 Terawattstunden. Noch tiefer liegt die Schätzung der Energieperspektiven des Bundes: 76 Terawattstunden.

Der Hauptgrund, weshalb die Prognosen des Bundes tiefer liegen: Die vom Staat engagierten Experten glauben, dass sich mit effizienteren Geräten wie Waschmaschinen oder Motoren in Zukunft viel Strom sparen lässt. Züttel argumentiert hingegen: «Effizientere Apparate haben in der Geschichte der Technik unter dem Strich noch nie zu einem tieferen Verbrauch geführt.» Er beruft sich auf das Jevons-Paradoxon. Der englische Ökonom William Jevons stellte fest, dass technische Entwicklungen, die eine effizientere Nutzung eines Rohstoffes erlauben, letztlich immer zu einer erhöhten Nutzung dieses Rohstoffes führten, anstatt sie zu senken.

Der Physiker und seine Kritiker

Andreas Züttel hatte vor zwei Jahren bereits mit einer Studie zur Energiewende für Aufsehen gesorgt. Damals hatte er berechnet, dass es bis 2050 zusätzlich zu Wind und Strom 13 riesige Stauseen brauchen würde, wenn man Öl, Benzin und Gas ausschliesslich durch Strom ersetzen würde. Und: Im Fall, dass man die Energiewende statt mit Strom mit Wasserstoff bewerkstelligen wolle, bräuchte es einen Speicher, der das Volumen von 25 Gotthardbasistunneln haben müsste.

Kritiker hielten ihm vor, solche Szenarien seien unrealistisch. Züttel konterte, das seien keine Szenarien, sondern bloss eine Analyse, um die Dimension des Problems aufzuzeigen. In jener Studie kam Züttel, der auch Leiter des Labors für erneuerbare Energien der EPFL und der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa) ist, auch zum Schluss, dass die Energiepreise um mindestens 20 Prozent steigen werden. Die SVP machte seine Berechnungen zu ihrem Hauptargument im Kampf gegen das Klimaschutzgesetz.

Noch in einem anderen Punkt ist Züttel skeptischer als andere Forscher: Er geht davon aus, dass das Solarpotenzial auf Schweizer Dächern 23 Terawattstunden beträgt. Dabei beruft er sich auf eine Studie einer Forscherin der ETH Lausanne. Eine Berechnung der Fachhochschule Zürich schätzte das Potenzial hingegen 50 Prozent höher ein. Der Bund geht sogar von einem doppelt so hohen Potenzial aus wie Züttel. Berechnungen, die Fassaden miteinbeziehen, kommen auf noch höhere Werte.

Seine konservativen Annahmen zum Fotovoltaikpotenzial brachten Züttel bereits vor zwei Jahren Kritik insbesondere von der Solarlobby ein. Er hält indes an seinen Zahlen fest. Und sagt: «Selbst wenn auf den Dächern etwas mehr Strom produziert wird, ändert das nichts an der Grundproblematik, dass Solarstrom nicht immer zur Verfügung steht und gespeichert werden muss.»

Link zur Studie