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Zunahme von Krankschreibungen Arbeitsunfähig, weil gekränkt

Kränkungen, Konflikte und Frustrationen sind die Hauptgründe für psychisch bedingte Krankschreibungen am Arbeitsplatz.

Psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeiten nehmen seit Jahren in allen Industrieländern zu. Die britische Regierung schlug deshalb diese Woche Alarm, denn die Kosten dafür betragen mittlerweile 57 Milliarden Franken jährlich. Bis ins Jahr 230 wird sogar mit 80 Milliarden Franken pro Jahr gerechnet. 

Für die Schweiz liegen keine genauen Daten vor, was unter anderem daran liegt, dass es keine nationale Krankentaggeldversicherung gibt – die Unternehmen schützen sich vor Arbeitsunfähigkeit mit privaten Anbietern. 

Mit rund 600’000 Versicherten ist die Swica der grösste Krankentaggeld-Versicherer in der Schweiz und gibt jährlich rund 200 Millionen Franken für psychisch bedingte Krankentaggelder aus. Das entspricht einer Steigerung von 57 Prozent innerhalb von zehn Jahren, und das «besorgt» die Versicherung, wie eine Sprecherin sagt. Um Genaueres über die Hintergründe zu erfahren, gab die Swica deshalb ein Forschungsprojekt in Auftrag. Niklas Baer vom Zentrum Arbeit und psychische Gesundheit Baselland analysierte mittels einer Zufalls-Stichprobe rund 2000 Swica-Krankentaggeldfälle des Jahres 2019. Die Studie wurde 2022 veröffentlicht und lieferte erstmals umfangreiche Erkenntnisse zu einem Phänomen, über das bislang verblüffend wenig bekannt ist.  

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  • Psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeiten sind in 95 Prozent aller Fälle Vollzeit-Krankschreibungen. Sie dauern im Durchschnitt 218 Tage und damit deutlich länger als die meisten Krankschreibungen aus körperlichen Gründen. Der Median liegt bei 154 Tagen.

  • Grosse Unterschiede sind innerhalb der Branchen auszumachen: Am kürzesten dauern die Krankschreibungen im Baugewerbe mit 171 Tagen und in der Logistik mit 191 Tagen, am längsten in der öffentlichen Verwaltung (267 Tage), bei Banken/Versicherungen (262 Tage) und im Erziehungswesen (255 Tage). 

  • Auch bei den Geschlechtern zeigen sich Unterschiede: Männliche Versicherte sind mit rund 45 Prozent untervertreten (obschon sie 53 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen), vor allem bei einer Krankschreibungsdauer von 1–2 Jahren, wo der Frauenanteil  61 Prozent beträgt. Zwei mögliche Gründe dafür: Weibliche Versicherte sind häufiger in den besonders betroffenen Branchen Gastronomie, Handel, Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen tätig, und bei ihnen sind Angststörungen und depressive Verstimmungen verbreiteter. 

  • Rund 57 Prozent aller psychisch bedingten Krankschreibungen entstehen als Reaktion auf einen Arbeitsplatzkonflikt. Dabei handelt es sich um sogenannte arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeiten, was bedeutet, dass die Betroffenen nicht grundsätzlich ausserstande sind, ihrem Beruf nachzugehen, sondern nur am gegenwärtigen Arbeitsplatz – zum Beispiel wegen «Konflikten, Kränkungen oder Frustrationen», wie es in der Studie heisst. 

  • Die jeweilige Gesundheitsproblematik wirkt sich kaum auf andere Lebensbereiche aus. «Es ist kaum ein Einfluss auf Partnerschaft, Kindererziehung, soziale Kontakte, Haushaltführung, Administration/Behördenkontakte, Freizeitaktivitäten ausser Haus oder die Benützung des öffentlichen Verkehrs dokumentiert», heisst es in der Studie. Fast 80 Prozent der Versicherten hätten neben der Arbeit im Alltag keine (64 Prozent) oder maximal eine (14 Prozent) Beeinträchtigung. Die Studie wirft deshalb die Frage auf, «ob nicht in gewissen Fällen eine Teilzeit-Arbeitsunfähigkeit möglich wäre» (anstatt der üblichen Vollzeit-Krankschreibung).

  • Interessant ist, welche Arten der psychischen Belastung zur Arbeitsunfähigkeit führen. Die Berichte von Psychiaterinnen und Gutachtern zeigten, dass lediglich in jeweils 7–14 Prozent der Fälle «schwere» kognitive, affektive oder interaktionelle Einschränkungen vorliegen. «Leichte» Einschränkungen sind demnach die Regel.

  • Es überwiegen affektive Störungen wie Depressionen und neurotische Störungen wie Belastungsreaktionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen. Substanzabhängigkeiten und Persönlichkeitsstörungen seien eher selten, wobei die Studie davon ausgeht, dass gerade die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen «mit ziemlicher Sicherheit unterschätzt» werde. 

So eindrücklich und erhellend die Erkenntnisse der Studie sind – auch Niklas Baer und sein Team konnten nicht beantworten, weshalb es zu dieser Zunahme kommt. Die Gründe seien «unklar», schreiben sie und teilen die Meinung von Professor Dirk Richter von der Berner Fachhochschule, wenn sie festhalten, entgegen den Schlagzeilen könne «nicht von einer epidemiologischen Zunahme psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung ausgegangen werden». Die vermehrten Krankschreibungen kontrastierten vielmehr mit «einer ausgezeichneten und differenzierten psychiatrischen Versorgung, die in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut und professionalisiert» wurde, heisst es in der Studie. 

Wie Richter vermuten die Swica-Studienmacher, dass die Entwicklung viel mit einer veränderten Haltung von «Gesellschaft und Arbeitsmarkt gegenüber psychischen Problemen» sowie mit einer Enttabuisierung zu tun habe. Sie regen daher an, darüber zu debattieren, dass die Herausforderungen, die das Arbeitsleben mit sich bringe  – Frustrationen, Veränderungen, Konflikte – zunehmend zu Krankschreibungen und damit zu einer «Medikalisierung von Arbeitsproblemen» führten.