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Reisepionierin Alexandrine Tinne in AfrikaIm Damensattel bis in die Sahara

Alexandrine Pieternella Françoise Tinne im Jahr 1860 – wie immer bereit, zum nächsten Abenteuer aufzubrechen.

Menschen können sich auf Reisen gegenseitig auf die Nerven gehen. Das war schon zu Pionierzeiten so: «Da die Damen das Frühaufstehen nicht lieben und überdies mehrere Stunden zu Toilette und Frühstück nötig haben, wird immer erst unter der glühenden Mittagssonne statt in der Morgenkühle abmarschiert.» So lästert ein gewisser Theodor von Heuglin über seine Begleiterin Alexandrine Tinne – und über eine der wohl kuriosesten Afrikareisen überhaupt. So zeitlos sich seine Klage aus dem Jahr 1863 liest, so unglaublich klingt der Rest der Geschichte.

Luxusreisen: Das lässt heute an Infinitypools und Designersuiten denken. Luxusreisen waren auch Alexandrine Tinnes Afrika-Abenteuer im 19. Jahrhundert. Und doch waren sie ganz anders. Im Gefolge der Niederländerin finden sich Dienerinnen mit Reifröcken, in ihrem Gepäck feinstes Porzellan und Silberbesteck, sogar ein Klavier. So verlaufen Tinnes Expeditionen standesgemäss – und trotzdem als Gegenteil dessen, was ihre Zeitgenossen angemessen finden: Eine junge Dame hat in unerforschten Ecken der Welt nichts zu suchen. 

Natürlich kursieren um Alexandrine die wildesten Gerüchte. Etwa, dass sie einen Mann verzaubert habe, den sie nun in Hundegestalt mit sich herumführe. Besonders gern wird über pikante Aspekte ihrer Exkursionen spekuliert, etwa, weil die junge Dame angeblich «ganz allein» bei den Dinka unterwegs gewesen sei – und das, wo dieses Volk doch «splitternackt durchs Leben gehe», wie ein britischer Afrikareisender in einem Brief vermerkt. 

Bald spricht sie fliessend Arabisch

Allerdings kann sich Alexandrine ihren Hang zur Exzentrik leisten. Sie wird 1835 in Den Haag geboren, in eine Familie, die so vermögend ist, dass ein Leben in Saus und Braus wartet. Ihren reisefreudigen Eltern hat es Alexandrine zu verdanken, dass sie schon als Mädchen halb Europa kennen lernt; Deutschland, Italien, Südfrankreich, England, Spanien, Skandinavien. Oft wird sie persönlich empfangen bei Hofe – auch nach dem frühen Tod des Vaters. Auf Neues ist sie geradezu versessen, auch auf die erst in den Kinderschuhen steckende Technik der Fotografie. Als sie mit 21 Jahren offiziell ihr schier unerschöpfliches Erbe antreten kann, sind ihr die nahe liegenden Reiseziele längst nicht mehr genug: Jetzt will sie den Orient sehen.

Ihre Reisefestigkeit zeigt sich schon bei der Fahrt übers Mittelmeer. Nach einem schlimmen Sturm notiert ihre Mutter Henriette über die unbeeindruckte Tochter: «Sie ass ihr Abendbrot, trank eine Flasche Bier und schlief die ganze Nacht.»

Fotoporträt der circa 25-jährigen Alexandrine, aufgenommen vom englischen Fotopionier Robert Jefferson Bingham.

Die Erkundung des fremden Kontinents beginnt in Ägypten, über Palästina und Syrien geht es bis in den Libanon. Alexandrine schwelgt in den Spuren der alten Kulturen, sei es im Tal der Könige, in Damaskus oder bei Beirut. Je weiter das Mutter-Tochter-Gespann samt Tante kommt, desto schwieriger ist es aber, zumindest Henriette zu begeistern. So schreibt sie in ihr Reisejournal über die Ruinen von Palmyra einen Eintrag, der fast an einen Post auf Tripadvisor erinnert: «Der erste Anblick war enttäuschend: als handle es sich um Schornsteine von Dampfmaschinen. Insgesamt war alles sehr interessant, aber es war nicht zu vergleichen mit Baalbek oder dem geringsten der ägyptischen Tempel.»

Aquarell eines Zimmers in Beirut. Alexandrine fertigte es 1857 an, als sie vor Ort war.

Später geht es wieder kreuz und quer durch Europa, bis nach Moskau. Die Frage nach der Quelle des Nils lässt Alexandrine aber nicht los, wie eine Motte zum Licht sieht sie sich wieder gen Süden gezogen.

Zum Zeitpunkt ihrer zweiten Reise dorthin spricht sie längst fliessend Arabisch. Über Khartum, wo Weisser und Blauer Nil sich treffen, will sie in Richtung Abessinien (das heutige Äthiopien) weiter. Die Karawane, die Alexandrine diesmal zusammenstellt, ist noch opulenter als beim ersten Mal: Wo es nicht mehr mit dem Schiff weitergeht, tragen 102 Kamele und Dromedare die Gruppe und ihr Gepäck – darunter Pelze und Abendkleider.

Sie versucht, Sklaven zu befreien

Kuriose Szenen spielen sich ab, wenn die nach strengster europäischer Mode aufgerüschten Damen auf Einheimische treffen, die teils nichts als schmückende Halsketten am Leib tragen. 

Die Hoffnung auf immer neue Aha-Erlebnisse und Abenteuer erfüllt sich freilich nicht immer. In einem Brief an eine Cousine kommentiert Alexandrine 1862: «Da Ägypten so exotisch ist mit seinen Wüsten, seinen Palmen, seinen Kakteen und seinen Zuckerrohrfeldern, hatten wir gedacht, dass das fernere Afrika das noch mehr sein würde. Wie verwundert waren wir deshalb, dass wir uns nach unserer Abreise aus Khartum sozusagen in Europa befanden. Keine Palmen und kein Sand mehr – überall schöne, grüne Ebenen, von Bäumen bestanden, die Weiden gleichen. Du kannst Dir nicht vorstellen, dass da ein Löwe oder ein Elefant umherstreifen würde.» Immerhin: «Der Fluss selbst wartet jedoch mit genügend lokalem Flair auf, mit Scharen von Nilpferden und mit Feldern aus schwimmenden Wasserlilien.» 

Noch weit entfernt von Afrika: Alexandrine als 14-Jährige vor den Pyrenäen, gemalt von Henri Auguste d’Ainecy de Montpezat.
2013 gaben die Niederlande eine Briefmarkenserie mit wegweisenden Frauen heraus. Als Vorlage für jene von Alexandrine diente das oben gezeigte Gemälde.

Hart ist es für Alexandrine, mit der Realität des Sklavenhandels konfrontiert zu werden. Nach Hause schreibt sie: «Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat – es ist widerwärtig.» Immer wieder versucht sie, Menschen freizukaufen, um sie mit ihrer Karawane in Sicherheit zu bringen. Solche Aktionen sind manchmal erfolgreich, aber auch eine sichere Methode, sich Feinde zu machen.

Das tiefe Misstrauen einer sexistischen und rassistischen Gesellschaft gegenüber Tinnes selbstbestimmter Art wird noch in einem Artikel in der deutschen Zeitschrift «Die Gartenlaube» aus ihrem Todesjahr 1869 deutlich: «Die Arabisierung der Dame ging mit ihrer steigenden Abneigung gegen alles Europäische gleichen Schritt.» Das habe gar so weit geführt, «dass sie es verschmähte, in tüchtigen, muth- und charaktervollen Männern von naturwissenschaftlicher Bildung ebenbürtige Reisebegleiter an sich zu ziehen, (...) auch die Gefahren ihrer Reisen mussten bei ihrem von keinem Mann gezügelten Negergefolge sich mehr als verdoppeln.»

Unterwegs sterben Mutter, Tante, Zofen

Ihre zweite grosse Afrikareise führt Alexandrine bis nach Gondokoro im Südsudan, und – ihrem angeblichen Männerhass zum Trotz – weiter mit dem deutschen Forscher Theodor von Heuglin in Richtung des sogenannten Gazellenflusses.

Dieses Foto aus Gondokoro im Südsudan stammt von Alexandrine selbst. Sie war von technischen Neuerungen stets begeistert – so auch von der Fotografie.

Der Preis ist am Ende hoch: Alexandrines engste Vertraute, ihre Mutter, stirbt trotz der luxuriösen Bedingungen 1863 an der Ruhr, etwas später auch ihre zwei Zofen und die mitgereiste Tante. Zum Trauern zieht sich Alexandrine zuerst nach Kairo zurück, dann auf eine Mittelmeerkreuzfahrt. Von Begeisterung, wieder in Europa zu sein, keine Spur. Über Neapel schreibt sie: «In Ägypten erscheinen selbst Elend und Schmutz noch pittoresk und poetisch, während es hier nur die Augen verletzt.»

So berichteten die Medien damals über die Abenteurerin. Eine Seite aus der Leipziger «Illustrierten Zeitung» vom 2. Oktober 1869.

So landet sie schliesslich doch wieder in Nordafrika und träumt sich bald in die Tiefen der Sahara. Der Versuch, diese Wüste bis zum Tschadsee als erste Europäerin zu durchqueren – und unterwegs die sagenumwobenen Tuareg zu besuchen – , wird ihr letztes Abenteuer. Am 1. August 1869 wird sie in der libyschen Sahara bei einem Überfall erstochen und im Sand liegen gelassen. Die genauen Umstände und Motive werden nie geklärt.

Ihr Tod im Alter von nur 33 Jahren erregt ein letztes Mal Aufsehen in Europa. Ihrem Nachruhm hilft das wenig – wie viele andere Frauen ihrer Zeit wird sie über Generationen fast vergessen. Grosse Teile ihres Nachlasses werden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Immerhin ist von ihrem Vorbild, dem schottischen Missionar und Afrikaforscher David Livingstone, ein wirklich grosses Kompliment erhalten: «Niemand aber steht höher in meiner Achtung als die holländische Dame, Fräulein Tinne.»

Die Zitate wurden der Biografie «Tochter des Sultans. Die Reisen der Alexandrine Tinne» von Wilfried Westphal (Jan-Thorbecke-Verlag 2002) entnommen.