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Städtereise in DeutschlandDie Wunder von Erfurt

Eine so gut erhaltene Altstadt wie in Erfurt findet man in Deutschland nur noch selten.

1998 stiess ein Baggerfahrer auf einen verbeulten Teller. Was er zunächst für einen ausrangierten Aschenbecher hielt, entpuppte sich als mittelalterliches Silbergeschirr. Bei den anschliessenden archäologischen Grabungen fand man unter einer Treppe Münzen, Silberbarren und Goldschmiedearbeiten – 30 Kilogramm insgesamt. 

Wir werden noch auf diesen Schatz zurückkommen. Aber aktuell interessiert Maria Stürzebecher ein anderer, noch unentdeckter Schatz, den sie nicht weit von dem ersten lokalisiert haben will. Krimispannend liest sich die noch nicht zu Ende geschrieben Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Stätten in Erfurt, die im September von der Unesco ins Weltkulturerbe aufgenommen worden sind. Ihre Entdeckung verdankt sich zum Teil wundersamen Glücksfällen, zum Teil aber auch einer akribischen Suche. Und Maria Stürzebecher –  Kunsthistorikerin und Unesco-Beauftragte der Stadt Erfurt – weiss genau, wo sie demnächst weitersuchen will. 

Die Kunsthistorikerin Maria Stürzebecher forscht seit 20 Jahren zum jüdischen Leben im mittelalterlichen Erfurt.

Doch halt, zunächst soll es dann doch an die Orte gehen, deren Einmaligkeit gerade von der Unesco offiziell bestätigt worden ist. Also hinein in die Altstadt, eine der schönsten in Deutschland übrigens – und doch als Städtereiseziel immer noch ein wenig unter dem Radar. 

Vergessen und darum erhalten

Im Mittelalter war Erfurt eine der bedeutendsten Städte des Heiligen Römischen Reichs, gelegen an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsstrassen, ein wirtschaftliches und geistig-kulturelles Zentrum. Auch eine grosse jüdische Gemeinde entstand, Christen und Juden lebten Tür an Tür in den Gassen am Ufer der Gera – «so wie in vielen Städten im 13. und 14. Jahrhundert», sagt Stürzebecher.

Das Besondere an Erfurt ist die Tatsache, dass hier die Stätten jüdischen Lebens erhalten geblieben sind: die Synagoge, deren älteste Bauteile aus dem 11. Jahrhundert stammen. Das Steinerne Haus, ein Wohnhaus aus dem 13. Jahrhundert mit einzigartigen Deckenbemalungen. Und die Mikwe, ein mittelalterliches Ritualbad.

Berührendes Paradoxon der Geschichte: Diese Gebäude überstanden die Zeiten, überstanden Judenpogrome und Holocaust, weil ihre Existenz über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war. Weil Juden verfolgt und ermordet worden waren.

Synagoge wurde zu Getreidespeicher

1349, am 21. März, endete das bislang weitgehend friedliche Miteinander in einem Blutbad. In Europa wütete die Pest, man beschuldigte die Juden, das Brunnenwasser vergiftet zu haben. Ein willkommener Vorwand, denn vielen christlichen Händlern waren sie unliebsame Konkurrenten. In zahlreichen Städten, so auch in Erfurt, wurden die jüdischen Gemeinden ausgelöscht, die Häuser in Brand gesteckt, die Menschen ermordet, ihr Besitz verteilt.

Die einstige Synagoge wurde umfunktioniert, diente anschliessend 500 Jahre lang als Getreidespeicher, später als Gastwirtschaft. Es wurde um- und angebaut, die alten Mauern wurden verkleidet, das Rosettenfenster an der Fassade verschwand hinter der Wand eines Nebengebäudes. 

Die Denkmalschützerin klettert durchs Fenster

Gesucht hat man nach der Synagoge erst wieder Ende der 1980er. Zuvor war in der DDR die Erforschung des jüdischen Erbes politisch nicht erwünscht. Was dann aber geschah, ist eines der vielen kleinen Wunder rund um das Erfurter Welterbe: Einer hartnäckigen Mitarbeiterin der Denkmalbehörde, die nicht vor Kletterpartien durch das Fenster in der Männertoilette und aufs Dach der Gaststätte zurückschreckte, ist es zu verdanken, dass die hinter anderen Mauern verschwundene Fassade mit dem Rosettenfenster entdeckt wurde. 

Seit 2009 beherbergt das Gebäude ein Museum. Die rauen Steinwände und die dunklen Holzbalken sind wieder sichtbar, im Obergeschoss hat man die Empore des Gaststätten-Tanzsaals mit Spuren der früheren Bemalung erhalten – alle Schichten der Geschichte sollten sichtbar bleiben. 

Im Keller ist der Erfurter Schatz ausgestellt – das ist der, auf den der Baggerfahrer zufällig stiess. Und als wäre die ganze Silberware damals nicht schon genug gewesen, lag in einer Dose, die man ebenfalls fand, noch ein goldener Hochzeitsring, verziert mit einem filigran gearbeiteten Tempel.

So gut sichtbar war die Alten Synagoge jahrhundertelang nicht: Die Fassade mit dem Rosettenfenster war zugebaut, die Bedeutung des Gebäudes in Vergessenheit geraten.
Bei einer jüdischen Hochzeit steckt der Bräutigam der Braut den Hochzeitsring auf den rechten Zeigefinger.

Drei so alte Ringe gibt es noch – weltweit. Der ganze Schatz wurde wahrscheinlich von einem jüdischen Kaufmann mit Namen Kalman von Wiehe vor dem Pogrom des Jahres 1349 vergraben und nie wieder abgeholt.

Der «deutsche Ponte Vecchio»

Wer wo im 14. Jahrhundert lebte, weiss man aus alten Steuerlisten. «Die Quellenlage ist aussergewöhnlich gut», sagt Maria Stürzebecher. Und die ausgezeichnet erhaltene Altstadt macht es ihren Besuchern leicht, sich ein paar Hundert Jahre in der Zeit zurückzuversetzen.

Fachwerk steht neben reich verzierten Renaissancefassaden, es lohnt sich, die verschnörkelten Schriftzüge darauf genauer zu studieren: Dort stehen noch immer die ungewöhnlichen Hausnamen, «Haus zum breiten Herd» heisst es da oder «Haus zur grossen roten Flasche». 

Die Krämerbrücke führt über die Gera und stammt aus dem 15. Jahrhundert. In einen der Brückenpfeiler kann man hinabsteigen.

Viel los ist in den Altstadtstrassen, es gibt zahlreiche Cafés und überraschend viele originelle Geschäfte. Das gilt auch für die Krämerbrücke, die einzige komplett mit bewohnten Häusern bebaute Steinbrücke nördlich der Alpen, die thüringische Variante des Ponte Vecchio in Florenz. Unterhalb der Brücke liegt die mittelalterliche Mikwe, ein Tauchbad, das der rituellen Reinigung diente. Auch die Mikwe ist Teil des Welterbes – und auch sie war wieder so ein Glücksfund.

Entdeckt wurde sie 2007, nachdem ein Teil der Uferbefestigung eingebrochen war – einen Tag bevor die Bagger alles einreissen sollten. Der Raum, in dem man sich auszog, ist erhalten, ebenso das Becken zum Untertauchen, das vom Fluss gespeist wurde. Für das Bad ist «lebendiges Wasser» vorgeschrieben.

Besichtigt werden kann die Mikwe bislang nur im Rahmen von Führungen, das Steinerne Haus ist noch gar nicht für Besucher erschlossen. Das werden die Aufgaben der kommenden Jahre sein. Auch ein Welterbezentrum soll gebaut werden, auf dem Rathaus-Parkplatz. Vorher allerdings will Maria Stürzebecher genau dort wieder auf Schatzsuche gehen. Denn vermutlich stand auf dem Grundstück eine weitere Synagoge.

Die Gegenwart ist ohne die Geschichte nicht denkbar, umgekehrt gilt das in diesen Tagen gleichermassen. Beim Recherchebesuch kurz nach dem Massaker der Hamas in Israel sichert ein Polizeiauto die Gasse zur Alten Synagoge. «Natürlich, das macht auch uns nervös», sagt Stürzebecher. In den 15 Jahren der Vorbereitungen für die Welterbe-Bewerbung habe sie keine antisemitischen Vorfälle erlebt, «wir hoffen natürlich, dass das so bleibt».

Krematorien für Konzentrationslager

Stürzebecher arbeitet auch im Netzwerk «Jüdisches Leben Erfurt» mit, das Geschichte der Juden in der Stadt sicht- und nachvollziehbar machen will, nicht nur im Mittelalter, sondern bis in die Gegenwart. Wobei jüdisches Leben gerade in Deutschland immer auch untrennbar verknüpft ist mit dessen Vernichtung durch die Nationalsozialisten.

Ein beeindruckender Erinnerungsort liegt knapp ausserhalb der Altstadt Erfurts: das Gebäude, wo sich früher der Sitz der Firma Topf & Söhne befand, die Getreidesilos baute, Brauereimaschinen, Schornsteine – und Krematorien. Auch jene für die Konzentrationslager der Nazis. 

Der Satz «Stets gern für Sie beschäftigt» auf der Fassade stammt aus dem Briefwechsel der Firma mit der SS.

Akribisch hat ein Historikerteam Dokumente für eine Dauerausstellung zusammengetragen, Aufträge, Entwürfe, Briefwechsel mit der SS. Gezeigt werden sie im Zeichensaal, dort, wo die Ingenieure die Anlagen entwarfen. Ein beklemmendes Gefühl. 

Verliebt in ein Fundstück

Leben und Sterben, das liegt immer beieinander bei der Erforschung jüdischen Lebens in Deutschland. Für Erfurts Unesco-Beauftragte konzentriert es sich in einer kleinen Schmuckdose aus dem Erfurter Schatz. Der Deckel ist verziert mit dem Relief eines Liebespaars. «Die Dose ist ganz abgegriffen, die muss jemand oft benutzt haben», sagt Stürzebecher.

Man verliebe sich in solche Stücke, «und dann wird einem plötzlich wieder bewusst, dass dieser Mensch beim Pogrom sicher umgebracht worden ist». Viele der Fundstücke seien Alltagsgegenstände: «Es ist das normale Leben, das wir hier zeigen können. Das macht es umso berührender.»

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